Gemeinsam auf dem Acker: Ein Besuch auf dem solidarischen Radieslihof
Was in der Romandie Tradition hat, schlägt mittlerweile auch in der Deutschschweiz Wurzeln: Bauernbetriebe, die ihre Kundschaft in die Produktion miteinbeziehen. Zu Besuch bei der solidarischen Landwirtschaftsinitiative radiesli.
Gleich zu Beginn blamiert sich die Journalistin. Was sie als Mais im Wachstumsrückstand identifiziert, sind in Wirklichkeit Schwarzwurzeln. Das Laub der Randen wiederum verwechselt sie mit Krautstielen. Auf den schmalen, dafür langen Äckern in Worb in der Nähe von Bern wachsen auch Buchweizen, schwarze Bohnen und Kartoffeln. Dass der Radieslihof im Einzugsgebiet Berns liegt und entsprechend zahlreiche Interessierte ansprechen kann, hält Marion Salzmann für einen Vorteil. Die Gemüsegärtnerin ist Mitglied des Vereins radiesli und der damit verknüpften radiesli GmbH, die der Bevölkerung die Landwirtschaft näherbringen will.
Solidarität mit der Natur und mit den Menschen
Das radiesli ist eine der ältesten solidarischen Landwirtschaftsinitiativen in der Deutschschweiz, 2021 feierte es sein zehnjähriges Jubiläum. In der französischsprachigen Schweiz kennt man diesen Ansatz schon länger: Die Kooperative «Les jardins de Cocagne» in Cartigny (GE) wurde 1978 gegründet, als erster Betrieb dieser Art in Europa. Die Idee dahinter: Landwirtinnen und Landwirte setzen sich gemeinsam mit ihrer Kundschaft für die nachhaltige Produktion regionaler Lebensmittel ein. So werden etwa keine synthetischen Dünger und chemischen Spritzmittel verwendet, zudem verzichtet das radiesli auf beheizte Treibhäuser.
Heute werden auf seinen zehn Hektar Acker- und Weideland rund 60 Gemüsearten produziert – vom Asia-Salat über Knackerbsen bis zu Zwiebeln, darunter etliche Pro-Specie-Rara-Sorten. Getreide und Hülsenfrüchte werden ebenfalls angebaut, ausserdem Kartoffeln, Randen oder Mais. Auch neun Mutterkühe leben auf dem Radieslihof. Mit ihrem Mist unterstützen sie den geschlossenen Nährstoffkreislauf und fördern die Bodenfruchtbarkeit. Sie fressen ausschliesslich Raufutter, das auf dem Hof selbst produziert wird. Die Jungtiere werden geschlachtet, sodass vom Radieslihof auch Fleisch bezogen werden kann.
Ackern für die eigene Mahlzeit
Finanziell getragen wird der Hof durch die derzeit fast 400 Vereinsmitglieder. Diese erwerben bei ihrem Eintritt Anteilsscheine. Je nachdem, welche Produkte ein Mitglied erhalten möchte, entrichtet es jährlich einen entsprechenden Betriebsbeitrag. Ausserdem verpflichtet sich die Person, pro Jahr mindestens an zwei Halbtagen selbst anzupacken, um Unkraut zu jäten, Gemüse zu rüsten oder andere Arbeiten zu verrichten.
Im Gegenzug erhalten die Mitglieder Ernteanteile: Jede Woche eine Tasche mit Saisongemüse, oder während des Winters einmal im Monat Lagergemüse wie Rüebli, Randen, Pastinaken oder Kartoffeln, oder auch grössere Mengen an Mehl oder Haferflocken.Ausserdem sind Eier und Pakete mit Rindfleisch – inklusive der Innereien – erhältlich. Die Mitglieder holen ihre Ernteanteile in verschiedenen Depots in Bern und in den umliegenden Gemeinden ab.
Obschon die Mitglieder ihre Ernteanteile auswählen, können sie die Ware nicht wie in einem Laden aussuchen. In ihren Taschen finden sie, was gerade geerntet werden kann. Darunter befindet sich auch kleines und krummes oder sonst von der Norm abweichendes Gemüse. Denn anders als im herkömmlichen Handel wird dieses nicht aussortiert.
Enger Bezug zum Lebensmittel
Dass sich die Kundschaft intensiv mit der Herkunft der Nahrungsmittel auseinandersetzt, sei begrüssenswert, sagt Daniel Arn von der Sektion Landschaftspolitik des BAFU. «Sind die Menschen für den Wert der Nahrung sensibilisiert, fällt auch weniger Food Waste an», hält er fest. Aus sozialer Sicht überzeugt ihn der Ansatz ebenfalls. «Das mit dem Klimawandel stark steigende Risiko liegt so nicht mehr allein bei den Landwirten. Wenn ein Teil der Ernte ausfällt, können diese auf die Solidarität der Vereinsmitglieder zählen.»
In der Deutschschweiz gibt es derzeit 15 solidarische Initiativen, die im Verband regionale Vertragslandwirtschaft zusammengeschlossen sind; das Pendant in der Romandie, die Fédération Romande d'Agriculture Contractuelle de Proximité (FRACP), umfasst 32 Betriebe.
Blumen im Einkaufswagen, Falken in der Hecke
Im kühlen Arbeitsraum – einem ehemaligen Kuhstall – schlägt das Herz des radiesli. Hier stehen lange Tische, an denen die Vereinsmitglieder Gemüse rüsten oder Ernteanteile verpacken. Auch Setzlinge werden pikiert, das heisst, in grösserem Abstand umgepflanzt – pro Jahr bis zu 20 000 Stück. Die vielen Arbeitshandschuhe, die draussen zum Trocknen aufgehängt sind, und die zahllosen Kräuel und Hacken bezeugen, dass das radiesli auf Handarbeit setzt.
Zwischen den Ökonomiegebäuden stehen gelb lackierte ausrangierte Einkaufswagen, die mit Löwenmäulchen, Tagetes und anderen Blumen bepflanzt sind. «Die Blumen sind wichtig für unseren Hof», erklärt Gemüsegärtnerin Marion Salzmann. «Beim Kabis etwa ziehen sie Nutzinsekten an, die Schädlinge wie Kohlweisslinge und weisse Fliegen fressen. Dadurch können wir auf Netze verzichten.»
Daneben pflegt das radiesli auch zahlreiche wertvolle Landschaftselemente wie Hecken, Steinhaufen und Buntbrachen und leistet damit einen Beitrag an die Biodiversität. «Hier leben nun Feldlerchen, Falken und sogar ein Hermelin», sagt Salzmann. «Es ist schön zu sehen, wie viel sich innerhalb weniger Jahre bewegen lässt.» Etwas verändert hat sich auch bei der Journalistin aus der Stadt: Sie wird künftig Schwarzwurzeln und Randen korrekt zu bestimmen wissen.